Für viele Beobachter ist das Rennen um die Präsidentschaft der USA bereits gelaufen. Hillary Clinton scheint als Siegerin festzustehen. Sie tritt, so der Tonus der Presse, ohne Konkurrenten aus den eigenen Reihen an, und der republikanische Kandidat? Zur Debatte stehen bei den Konservativen Rand Paul, Donald Trump und Jeb Bush. Ein neoliberaler Ultra mit geringem Bekanntheitsgrad, ein pöbelnder Rassist und ein dritter Vertreter des berüchtigten Bush-Clans. In einem Land, in dem Männer wie George Bush und Ronald Reagan das höchste politische Amt innehaben durften, muss man zwar prinzipiell mit allem rechnen, aber trotz der republikanischen Schmutzkampagne liegt Hillary Clinton unangefochten vorne.

So scheint es, oder so schien es zumindest. Tatsächlich bekommt sie gerade Konkurrenz von einer Seite, von der es kaum jemand erwartet hätte. Er ist parteilos, bewirbt sich aber um die Spitzenkandidatur der Demokraten. Und er hat viele Fans. Während zu Hillary Clintons Wahlkampfreden im besten Falle 5000 Menschen kamen, sprach er unlängst in einem Stadion vor 22.000 Zuhörern, während die 5000, die keinen Platz mehr gefunden hatten, das Geschehen vor der Tür auf riesigen Bildschirmen verfolgten. Die Rede ist von Bernie Sanders, Senator für New Hampshire und in einigen Umfragen weit vor Hillary Clinton.
Das ist umso erstaunlicher, als Bernie Sanders nicht gerade die Themen anspricht, mit denen seine Konkurrenten in den Wahlkampf ziehen. Sein Programm ist möglicherweise das radikalste, mit dem je ein Mann um den Platz im Weißen Haus gekämpft hat. Mit scharfen Worten geißelt er die soziale Ungleichheit, schimpft auf die Gier der Milliardäre und Wallstreet-Banker und fordert stärkere Maßnahmen zur Bekämpfung des Klimawandels und einen Ausbau der gesetzlichen Krankenversicherung. 60 Jahre, nachdem der gefürchtete McCarthy in den Staaten Jagd auf Linke machte, tritt ein bekennender Sozialist bei den Vorwahlen an. Die Öffentlichkeit reibt sich verwundert die Augen über den „linken Sonderling“( „ZEIT“), den „irren Kommunisten“ (Trump), der sich nichtdestotrotz riesiger Beliebtheit erfreut.
Während also im Jahr 2015 die AfD und Pegida in Deutschland und die SVP in der Schweiz erstarken, findet im Rest der Welt vielerorts ein Linksruck statt. SYRIZA übernahm die Regierung in Griechenland. Podemos überantwortete das spanische Zweiparteiensystem dem Müllhaufen der Geschichte. Die britische Labour Party kürte mit Jeremy Corbyn einen Linksradikalen zu ihrem Vorsitzenden. In Portugal haben die Sozialisten und die beiden kommunistischen Parteien bei der Wahl eine absolute Mehrheit errunen. Und jetzt will ein Mann, der sich selbst als Sozialist bezeichnet, Präsident der Vereinigten Staaten werden, und seine Chancen stehen nicht schlecht.
Warum aber ist das so? Wie konnte in Griechenland, das Politikwissenschaftler noch vor 2 Jahren angesichts der Erfolge der „goldenen Morgenröte“ in den Faschismus abrutschen sahen, eine linksradikale Partei an die Regierung gelangen? Und wie kann in einem Land, in dem Obama sich nach der Einführung einer öffentlichen Gesundheitsversorgung für die sozial Schwachen bereits dem Vorwurf kommunistischer Umtriebe ausgesetzt sah, ein Kandidat, der viel mehr als das fordert, zum Helden der Massen werden? „Weil du recht hast, Bernie,“ schrie ein Mann während der Kundgebung im Stadion, als Sanders amüsiert von Journalisten erzählte, die ihn immer wieder fragten, warum seine Reden so viele Menschen anlockten, „weil du recht hast!“.
Eine bemerkenswerte Anekdote, denn sie illustriert, dass die „etablierten Parteien“ offenbar unter einem massiven Glaubwürdigkeitsproblem leiden. Die Klage, die Politik würde sich überhaupt nicht mehr um die Interessen der Bürger kümmern, wird in allen Lagern von ganz links bis ganz rechts geführt. Im „Land of the Free“, wo man dem Wohlfahrtsstaat traditionell ablehnend gegenübersteht, gab es bemerkenswert selten solche Klagen, doch die American-Dream-Romantik wird von denen, die in der Krise oder danach ihre Arbeit und ihren Besitz verloren haben, inzwischen nur noch als zynisch empfunden. Und dann kommt ein Mann, der all das anspricht, was sich sonst niemand anzusprechen traut. Selbst in der tolerantesten Demokratie werden Politiker, die große Teile des wirtschaftlichen und sozialen Systems in Frage stellen, mit Argwohn betrachtet. Genau das aber tut Bernie Sanders. Er bezweifelt die alte Mär vom deregulierten Markt und die Trickle-down-Theorie, spricht ihnen den Nutzen für die Allgemeinheit ab, und er trifft den Nerv seiner Landsleute, die sich abgehängt fühlen, verraten von denen, die ihnen jahrzehntelang diese Ideologie als Weg zu Glück und Wohlstand anpriesen und sie doch immer nur ärmer gemacht haben. Gleiches ist in Griechenland bereits geschehen. Sie mochten sich Konservative, Sozialdemokraten oder Liberale nennen, das war völlig egal, wenn die mörderische Austeritätspolitik der EU zur Sprache kam, dann waren sie sich darin einig, dass sie den einzigen Weg darstellte. Bloß nicht vom „bewährten“ Weg abweichen!
Keine der großen Parteien in Griechenland wollte sehen, was die Austerität dem Land antat. Das Volk schnallte den Gürtel enger, bis Kinder durch Unterernährung zusammenbrachen und Kranke unbehandelt sterben mussten. Ein Umstand, der nicht von den großen Parteien thematisiert wurde, es war ja ihre Politik, die dazu geführt hatte. Die Steuern niedrig zu halten, die Vermögen der Reichen nicht anzutasten, das ist ein Grundpfeiler unseres westlichen Systems. Die freie Marktwirtschaft, die zwar soziale Ungleichheit erzeugt und immer weiter verstärkt, die anzuzweifeln aber die meisten Betroffenen dennoch nicht wagen. Sie ist zu sehr Teil unseres politischen und gesellschaftlichen Selbstverständnisses, als dass breite Bevölkerungsschichten sich gegen sie wenden würden – in Zeiten wirtschaftlichen Aufschwungs. In Krisenzeiten allerdings, wenn die ärmeren Bevölkerungsschichten plötzlich vor dem Nichts stehen, fragen sich diese Menschen plötzlich, wozu man an einem System festhalten soll, das daran scheitert, ihnen ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen. Wenn die Apologeten des freien Marktes den Rückbau (oder die Privatisierung, was oft aufs Gleiche hinausläuft) der sozialen Sicherungssysteme betreiben, dann sägen sie selbst den Stützpfeiler des Systems um. Der Kapitalismus lebt wie jedes politische System davon, dass die Menschen daran glauben, dass er ihnen ein gutes Leben ermöglicht. Wenn offenbar wird, dass der Kapitalismus vor dieser Aufgabe versagt, dann haben die Parteien, die ihn jahrzehntelang gepredigt haben, einen schweren Stand. Genau das ist der Boden, auf dem linkes Gedankengut wieder gedeihen kann. Wenn der Status Quo den Menschen nicht mehr erhaltenswert scheint, neigen sie denen zu, die mit ihm brechen wollen. So kann der Linksruck gleichzeitig auch als Warnsignal für eine zunehmende Verschärfung des sozialen Unrechts gesehen werden.
Ein Gedanke, der konservativen Politikern nie zu kommen scheint. Bismarck nahm mit seinen Sozialreformen den Kommunisten den Wind aus den Segeln, die Regierungen Europas verschärfen die Sparmaßnahmen und damit die soziale Ungerechtigkeit nur immer mehr. Um einmal sehr tief in die Zitatekiste zu greifen: Sie erzeugen ihren eigenen Totengräber.
Was würde dazu besser passen als meine eigenen Gedanken von heute morgen: http://freies-in-wort-und-schrift.info/2015/10/27/babylonia/
Wie aus der Sparsamkeits-Ideologie vom freien Markt heraus kommen?
DIE LINKE Niedersachsen hat sich daran gemacht, den Beschluss des Bundesparteitages 2015 umzusetzen:
http://bit.ly/Falter_SteuerfreierMindestlohn_Nds
Botschaft: Die ganze Zeit wurden niedrige und mittlere Einkommen zu stark, bis ins Existenzminimum besteuert. Das muss ein Ende haben! Steuersenkungen bis in den mittleren Einkommensbereich sind mehr als überfällig.
Schluss mit der Schonzeit des Kapitals: Unternehmen, Reiche und Superreiche müssen massiv stärker besteuert werden.