Als vor etwa einem Jahr die griechische SYRIZA stärkste Kraft bei den Parlamentswahlen wurde, war der Jubel der europäischen Linken groß. Eine revolutionäre neue Kraft war in Erscheinung getreten, hatte bewiesen, dass man mit einem linksradikalen Programm (und Namen) nicht nur starke Oppositionskraft, sondern auch Teil der Regierung sein sogar den Regierungschef stellen kann. (SYRIZA = Synaspismos Rizospastikis Aristeras – „Koalition der radikalen Linken“) Nicht wenige (zugegeben: Ich auch) träumten etwas naiv von einer grundsätzlichen Änderung des politischen Gefüges in Europa, von einer Revolution, die in Griechenland beginnen und sich auf dem ganzen Kontinent ausbreiten würde. Natürlich wurden wir enttäuscht. Die meisten (auch SYRIZA selbst) haben die Entschlossenheit der EU unterschätzt, die linke Regierung zur Kapitulation zu zwingen. Die Wahl in Portugal ist zwar ebenfalls von einer linken Koalition gewonnen worden, aber durch das antidemokratische Taktieren des Staatspräsidenten kann auch diese Regierung keine großen Veränderungen herbeiführen.
Dennoch war 2015 ein äußerst erfolgreiches Jahr für die europäische Linke. Mehr noch, sie hat einen äußerst wichtigen Sieg errungen, der aber oft übersehen wird. SYRIZA, die portugiesischen Linken und Podemos in Spanien haben mit friedlichen Mitteln geschafft, woran beispielsweise die RAF auf gewaltsamem Weg scheiterte: Sie haben der EU und der deutschen Regierung, bildlich gesprochen, die demokratische Maske von der autoritären Fratze gerissen. Kaum jemand, nicht einmal Alexis Tsipras selbst, hätte für möglich gehalten (siehe hier), wie weit die EU und die „Institutionen“ gehen würden, um die linke Bewegung zu unterdrücken. Dass eine Union, die sich selbst als Wertegemeinschaft versteht, als Vertretung von Menschenrechten, Humanität und Demokratie, Bankenprofit vor Menschenleben stellt, ein unmenschliches Austeritätsregime in mehreren Ländern installiert und sich über demokratische Wahlen hinwegsetzt, als sei nichts gewesen, hat nicht nur im linken Spektrum einen tiefen Schock hinterlassen.Verlässt man die mediale Insel deutscher Berichterstattung zum Thema Griechenlandkrise, bekommt man einen Eindruck davon, wie das Jahr 2015 den Blick der europäischen Bevölkerung auf die EU, aber vor allem auf die deutsche Dominanz darin verändert hat.
Nicht nur die Gesinnungsgenossen SYRIZAS waren über das Ergebnis des Schuldenstreits geradezu entsetzt. Im französichen Le Figaro, der nicht gerade als Sprachrohr der Linken bekannt ist, stand nach der „Einigung“ im Schuldenstreit der vielzitierte Satz, die Bedingungen, die Deutschland Griechenland aufgezwungen habe, hätte man früher „nur mit Waffengewalt“ durchsetzen können. Financial Times und Daily Telegraph, linker Überzeugungen ebanfalls unverdächtig, schlugen sogar noch deutlichere Töne an: Hier war von einem tyrannischen Diktat die Rede, von „nationalistischen Machtkämpfen“, gar von erzwungener „hündischer Selbsterniedrigung“. „Die Währungsunion als Schritt zu einer demokratischen politischen Union“ sei zerstört, bilanzierte der bekannte Wirtschaftsjournalist Wolfgang Münchau. (Zitatesammlung siehe hier) An jenem Tag gelangten selbst eifrige Verfechter der europäischen Einheit zu der Überzeugung, dass diese EU schon lange keine Wertegemeinschaft mehr ist, sondern nur noch den Interessen Deutschlands und der Hochfinanz dient. Die konservative deutsche Regierung mag sich in ihrem Sieg über die freche SYRIZA suhlen, sie hat im letzten Jahr die EU als Wertegemeinschaft zerstört und damit fast alles, wofür auch ihre eigenen Mitglieder jahrzehntelang gekämpft haben.
Der berühmte Aktivist Srdja Popovic benennt als zentrale Strategie beim gewaltlosen Kampf gegen Unterdrückung, den Herrscher einen hohen Preis für die Unterdrückung zahlen zu lassen – bis der Preis so hoch wird, dass er nicht mehr bezahlbar ist. Deutschland hat mit seiner internationalen Reputation für den Sieg über Griechenland bezahlt. Ob wirklich alles Ansehen, das Adenauer, Brandt und andere in Jahrzehnten mühsam aufgebaut haben, dahin ist, wie Jürgen Habermas im Interview mit dem Guardian meinte, darf bezweifelt werden, doch in jedem Fall hat das Verhalten der deutschen Regierung der Linken Muntition geleifert (und leider auch den rechten Europakritikern, gerade UKIP und dem Front National.). Stratfor Global Intelligence (privat betriebener Geheimdienst mit Sitz in den USA) prognostizierte im Herbst das Auseinanderbrechen der EU aufgrund des Erstarkens von politischen Kräften im Rest Europas, die die wirtschaftliche und politische Dominanz Deutschlands brechen wollen. Eine Vorhersage, die keinesfalls aus der Luft gegriffen ist: In Frankreich und Großbritannien machen rechte Parteien gerade Stimmung gegen Deutschland und stoßen damit auf breite Resonanz bei der Bevölkerung. Wie wird es unserer exportorientierten Wirtschaft ergehen, wenn die Exporte aufgrund protektionistischer Gesetze bei unseren wichtigsten Abnehmern (den anderen Euroländern) einbrechen? So viele Autos können die Chinesen gar nicht kaufen, wie VW und co. plötzlich zu viel produzieren würden. Ganze Industriezweige würden mit einem Schlag unprofitabel oder müssten ihre Produktion deutlich zurückfahren.
Das ist der eigentliche Erfolg von SYRIZA, Podemos und den portugiesischen Linken: Sie haben ihre Gegner als undemokratisch, engstirnig und kurzsichtig entlarvt. In der deutschen Presse ist das nicht wahrgenommen worden – was mich zur nächsten abgerissenen Maske in Tsipras‘ Trophäenschrank bringt. Die deutsche Presselandschaft hat sich in der Griechenlandkrise mit einer einseitigen, hetzerischen Berichterstattung hervorgetan, wie man sie in Russland oder China erwarten würde, aber nicht in einem Land mit freier Presse. In seltener Einigkeit schrieben die deutschen Zeitungen gegen die griechische Regierung an , brachten kaum Gegenpositionen und verfielen manchmal gar ins Rassistische. (Siehe z. B. das Titelbild: Der „Spiegel“ illustrierte seinen Beitrag zur Griechenlandkrise auf „Stürmer“-Niveau) Die Apologeten der marktkonformen Demokratie steigerten sich zu Höchstleistungen. In der FAZ war zu lesen, es gebe nun mal Stellen, da habe die Demokratie nichts zu suchen. Und im Spiegel hieß es im November, die portugiesische Regierung sei durch das Linksbündnis „gestürzt“ worden. Ich bin kein Journalist, aber ich schreibe Artikel und fühle mich daher an die journalistische Ethik gebunden, und aus diesem Grund würde es mir nicht im Traum einfallen, von einem „Sturz“ zu sprechen, wenn ein Volk eine neue Regierung wählt, auch wenn sie mir unsympathisch ist. (Marine Le Pen wird vielleicht Staatspräsidentin, und auch wenn ich das entsetzlich fände, würde ich nicht auf die Idee kommen zu schreiben, sie habe Hollande gestürzt) Die deutsche Presse hat dank SYRIZA und co. bewiesen, dass sie sich für nichts zu schade ist, um ihre Regierung zu verteidigen. Ausgewogene Berichterstattung? Fehlanzeige.
Die Linientreue der deutschen Medien konnte man auch an einem anderen Phänomen wunderbar beobachten: Immer wenn in Südeuropa Wahlen anstanden und linke Parteien hohe Erfolgsaussichten hatten, erschienen etwa einen Monat vorher in etlichen deutschen Zeitungen Artikel, die der Wirtschaft des entsprechenden Landes gute Erfolge bescheinigten und diese selbstverständlich auf die Austeritätspolitik zurückführten, die die vorherige konservative Regierung durchgesetzt hatte. Die klare Botschaft: Bloß keine Experimente, gerade funktioniert doch alles! Wehe, ihr wählt links, dann ist euer Land dem Untergang geweiht. Man kann es den südeuropäischen Linken durchaus als Verdienst anrechnen, dass sie gezeigt haben, wie obrigkeitshörig und unkritisch die Vierte Gewalt in unserem Land ist.
Die Linken in Südeuropa haben die EU nicht verändert, sie konnten meist nicht einmal in ihren eigenen Ländern etwas bewirken, aber sie haben ihre politischen Gegner dazu gebracht, sich zu entlarven. Dank ihnen steht die EU ohne ihre demokratische, humanitäre Maske da als die neoliberale Unterdrückungsmaschinerie, die sie in Wirklichkeit ist. Jetzt liegt es an uns, diese Erkenntnis in eine Reform der Union umzusetzten, die ein Europa schafft, das allen dient – und nicht nur den Banken und der deutschen Industrie.