Die deutsche Presse ist seit dem Beginn der Vorwahlen auf fast schon alberne Art vernarrt in Hillary Clinton. Sie gilt als Kandidatin der „Mitte“, und das ist ja was Gutes. Also liest und hört man auf allen Kanälen, wie großartig und erfolgreich sie doch ist (ein sehr peinliches Beispiel von Jubeljournalismus hier), während ihre Konkurrenz auf unterschiedliche Weise schlecht gemacht wird: Die Journalisten überbieten sich gegenseitig mit entsetzten Artikeln über Donald Trump, während sie im Fall von Bernie Sanders zu hoffen scheinen, dass er von selbst verschwindet, wenn sie ihn nur konsequent genug ignorieren. Trump und Sanders (sofern er überhaupt erwähnt wird) werden als gefährliche Extremisten dargestellt, denen die helisame Kraft der politischen Mitte (Clinton) entgegengesetzt wird.

Meine Mutter, die durchaus mit Bernie Sanders Zielen sympathisiert, meinte unlängst, sie hoffe dennoch, dass Hillary Clinton die Vorwahlen gewinnen würde, da ein Sozialist im Kamof mit Trump gnadenlos unterliegen müsste. Auch hier also die Vorstellung von der Unbesiegbarkeit der politischen Mitte. Ein Sieg des „irren Kommunisten“ (so Donald Trump) scheint uns unrealistisch, weil er sich eben am linken Rand bewegt. Und Randerscheinungen werden niemals so viele Stimmen erhalten wie die politische Mitte. So sind wir das aus Deutschland gewohnt.
Aber was ist eigentlich die „politische Mitte“? Wo liegt sie denn? Ist sie dort, wo die „linke Volkspartei SPD liegt“, wie Müntefering meinte? Oder eher bei der CDU, die den Slogan unter Kohl benutzte, um ihre Verbundenheit mit der Mittelschicht zu bekunden? Die Mitte ist wohl vor allem ein Konstrukt der Politiker, um eine breite Masse von Wählern anzusprechen. Nur wenige in Deutschland sind wirklich reich (also Oberschicht), und den Begriff „Unterschicht“ hört man in Berlin ungern, nicht, weil er diskriminierend ist (der „Sozialschmarotzer“ schaffte es ohne Probleme in Reden und Debatten), sondern eher, weil seine Benutzung ja ein Eingeständnis wäre, dass es arme Menschen in Deutschland gibt. Hinzu kommt, dass sich natürlich niemand gerne als der Unterschicht zugehörig fühlen will, sich also die meisten Menschen auch in den unteren Einkommensschichten als Mittelschicht begreifen. So kann der Begriff der Mitte den größten Teil der potentiellen Wähler ansprechen.
Soweit die Theorie, die die meisten Menschen unterschreiben würden. Demzufolge müssten wir uns mit Hillary Clinton als Präsidentschaftskandidatin keine Sorgen machen, dass Donald Trump ins Weiße Haus einziehen könnte. Aktuelle Umfragen sagen allerdings das genaue Gegenteil aus: Beim Duell Trump vs. Sanders sagt sogar der rechte Sender Fox News einen klaren Sieg für Sanders voraus (siehe hier), während das Ergebnis bei einer Wahl zwischen Clinton und Trump nicht so eindeutig ausfiele (hier). Mit Bernie Sanders hätten die Demokraten also die besseren Chancen auf einen Sieg im November. Wie es aussieht, hat die Regel von der erfolgreichen politischen Mitte ihre Gültigkeit eingebüßt – nicht nur in den USA. Auch in Europa verlieren die Parteien der politischen Mitte ihre Wähler an linksradikale (SYRIZA, Podemos) oder rechtsradikale Kräfte. (PiS, Chrysi Avgi, Fidesz, Front National, Sverigedemokrater, AfD)
Die Gründe dafür sind vielfältig und von Land zu Land verschieden, aber alle Gewinner in der politischen Krise der Altparteien profitieren davon, dass die regierenden Kräfte ihre Glaubwürdigkeit verspielt haben. Es ist die Aufgabe einer Regierung, dafür zu sorgen, dass es den Menschen in ihrem Land gut geht. Wenn sie das nicht tut, beginnen die Menschen, nach Alternativen zu suchen. Die Regierungen in der westlichen Hemisphäresind sich mehr oder weniger einig in ihrer marktliberalen Grundlinie – die jedoch seit der Finanzkrise einen enormen Imageschaden erlitten hat. Keine etablierte politische Kraft wollte sich daran machen, das System, das solche und andere Krisen erzeugt, zu reformieren. Was die Anhänger von Trump und Sanders eint, ist, dass sie das „Establishment“ in Washington verachten. (In Deutschland schimpft die AfD auf die „Blockparteien“ im Bundestag, und diese Gleichförmigkeit der Politik wird auch von den Linken beklagt – was aber auch schon die einzige Gemeinsamkeit dieser Parteien ist)
Wer, wie die SPD nach der letzten Bundestagswahl, die große Wählerschaft „in der Mitte“ sucht, verkennt die politische Entwicklung dieser Tage. Große Teile der Gesellschaft haben aufgehört, sich als die Mitte zu betrachten. Sie fühlen sich ausgegrenzt, vernachlässigt und von der Politik nicht mehr vertreten. Oft genug muss man sagen: Zu Recht. 40 % der deutschen Bevölkerung, die nach 2030 in Rente gehen, werden in Altersarmut leben – hat irgendeine Regierung der letzten Jahrzehnte etwas unternommen, um das zu ändern? Und wenn Milliardäre mit Steuererleichterungen vom Staat reich beschenkt werden, aber die, denen es so schon schlecht geht, immer weniger abbekommen, dan schlägt die Stunde derer, die daran etwas ändern wollen. Noch hat diese Entwicklung Deutschland nicht erreicht oder manifestiert sich allenfalls in der AfD. Aber da die Mittelschicht auch hierzulande schrumpft, werden immer mehr Menschen beginnen, das System infrage zu stellen. Alles, was noch fehlt, ist ein deutscher Bernie Sanders, der den Protest in eine wirksame politische Bewegung umwandeln kann.