Liebe Inge, zum 31. Juli wirst Du aus gesundheitlichen Gründen leider Dein Mandat für DIE LINKE. in der Hamburgischen Bürgerschaft niederlegen. Wir haben bereits am Anfang Deiner Abgeordnetenlaufbahn vor rund zwei Jahren ein Gespräch mit Dir geführt. Nun schließt sich hier quasi auch ein Kreis. Vielen Dank, dass Du dir nochmal die Zeit nimmst.
Wen das Interview von vor zwei Jahren nochmal interessiert, findet es HIER.
ZUR PERSON: Die gebürtige Hamburgerin ist als „Hartz IV-Rebellin“ bekannt. Nachdem die ehemalige Jobcenter-Mitarbeiterin die Praxis der Sanktionen scharf kritisierte und Betroffenen half, wurde sie freigestellt. Sie war die erste „aus dem System“, die sich traute eben jenes zu bekämpfen. Seitdem bloggt sie, tourt durch das Land, setzt sich für Betroffene und das BGE ein. 2015 wurde sie für DIE LINKE. in die Hamburgische Bürgerschaft gewählt. Zum 31.07. legt Sie aus gesundheitlichen Gründen das Mandat nieder.
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Vor zwei Jahren hast Du uns gesagt, es hätte Dich viel Überwindung gekostet wieder in einer Partei einzutreten und selbst Politik zu machen, weil Deine Erfahrungen bei Jusos und SPD keine Guten gewesen seien. Jetzt nach zwei Jahren in der LINKEN. War es eine richtige Entscheidung, es doch nochmal zu wagen?
Inge Hannemann: Ja, es war die richtige Entscheidung, bei allen Höhen und Tiefen. Die Verknüpfung meiner außerparlamentarischen Arbeit, wie bundesweite Kampagnen oder Aktionen vor Ort und Politik hat gut funktioniert. Mit der außerparlamentarischen Arbeit konnte ich bundesweit auf die menschenunwürdige Situation der Agenda 2010 aufmerksam machen.
Mit der politischen Arbeit konnte ich durch Kleine oder Große Anfragen sowie durch Anträge tiefer in die Problematik vor Ort einsteigen und mit meinen Fragen durchaus den Senat in Erklärungsnot bringen. Für meinen Bereich waren es speziell die Sozialbehörde, Jobcenter team.arbeit.hamburg und die Hamburger Arbeitsagentur.
Als Beispiel möchte ich die zum Teil mangelhaften Antworten, bzw. keine Antworten oder auch einfach falsche Antworten erwähnen. Trotz, dass dem Senat anhand meiner Vortexte oder Fragen hätte erkennbar sein müssen, das mir interne Dokumente der Bundesagentur für Arbeit oder der Jobcenter vorliegen, haben sie entweder gar nicht oder eben mit falschen Antworten reagiert. Damit war für mich klar, sie wollen keine Änderungen und winden sich wie ein Regenwurm. Eine spürbare Besserung trat erst mit dem neuen Geschäftsführer von Jobcenter team.arbeit.hamburg ein. Aber auch er ist in einem Korsett „gefangen“. Selbstverständlich bleibe ich auch nach meinem Rücktritt bei den Linken und der neue Kreisverband freut sich auf mich. Mit meinem Rücktritt werde ich ja nicht plötzlich unpolitisch oder passiv. Nur eben jetzt anders – angepasst an meine körperlichen Kräfte und Gesundheit, aber weiterhin im Verbund mit meinem bundesweiten und europäischen Netzwerken.
Du bist 2015 als de facto Quereinsteigerin ins Parlament gerückt. Welche Erwartungen und Hoffnungen hattest Du vorher, welche davon haben sich erfüllt oder zerschlagen? Wie lautet Dein Resumee nach diesen zwei Jahren?
Inge Hannemann: Oh, großes Thema. Die Erwartung, dass sich die derzeitige Arbeitsmarktpolitik grundlegend ändert, dass Hartz IV abgeschafft wird, hatte ich nicht. Das wäre auch unrealistisch gewesen – da gerade in diesem Bereich auch die komplette Wirtschaft dranhängt. Und als „kleine Rathausabgeordnete“ kann ich ein bundesweites Gesetz eh nicht abschaffen. Das gilt natürlich auch für Hamburg. Insbesondere der Niedriglohnsektor, auch damit der geringe Mindestlohn macht Deutschland schließlich zum Exportweltmeister. Und das ist halt nur möglich, wenn ich unter Druck und mit Sanktionsandrohungen Erwerbslose in jede irgendwie zumutbare Tätigkeit presse. Die sog. „schwarze Null“ von Schäuble spielt hier eine tragende Rolle.
Erfüllt haben sich die Erwartungen, dass ich mit meinen Reden in der Bürgerschaft und eben Anfragen durchaus den Nerv der Hamburger Koalition (SPD / Grüne) und der Sozialbehörde getroffen habe. Dieses war deutlich an der „Aufregung“ meiner Kolleginnen und Kollegen sowie des Ex-Sozialsenators Detlef Scheele zu erkennen. Das hat schon Spaß gemacht. Auch hat sich mit dem neuen Geschäftsführer von Jobcenter team.arbeit.hamburg die bilaterale Kommunikation positiv verändert. Das zeigte deutlich auf, dass es eben auch am Wollen Einzelner liegt. Er ist stark bemüht, dass sich die Willkür in den Hamburger Jobcentern reduziert. Natürlich kann er nicht jeden einzelnen MitarbeiterIn im Blick haben.
Zerschlagen hat sich die Erwartung, dass die Arbeitsmarktpolitik allgemein bei den Linken in Hamburg mehr in den Fokus rückt. Es scheint kein beliebtes Thema zu sein. Mein Gefühl sagt mir, dass ich es nicht geschafft habe zu vermitteln, wie Betroffene unter der Armut, Willkür und dem Agenda-Karussell leiden und welche Folgen es tatsächlich für alle hat. Mir ging es dabei nicht um das theoretische Verstehen, weil man es irgendwo gelesen hat, sondern um das tatsächliche Nachempfinden und die Folgen für die Gesellschaft. Aber vielleicht waren hier meine Erwartungen zu groß. Möglicherweise muss man Armut selbst erlebt haben, um das nachzuempfinden.
Für mich hörten mein Aktivismus und die politische Arbeit bis heute nicht an den Stadtgrenzen Hamburgs auf, nur weil ich plötzlich in einem Hamburger Rathaus sitze. Vielmehr sollte doch gelten, dass wir die Gesellschaft als Ganzes sehen, dass politische Entscheidungen, ob vor Ort oder bundesweit Auswirkungen auf alle haben oder haben wird bzw könnte. Nenne ich ein Beispiel: Wenn ich es geschafft hätte, die Sanktionen bei Hartz IV in Hamburg einzustampfen, wäre eine Gesetzänderung im SGB II bundesweit nötig gewesen. Das kann der Hamburger Senat jedoch nicht bestimmen, selbst wenn die Koalition zugestimmt hätte. Dafür ist Hamburg zu klein und kann nur im Bundesrat entschieden werden. Mal abgesehen davon, dass die Hamburger Koalition natürlich unseren Vorstoß zur Abschaffung bzw. Aussetzung der Sanktionen abgelehnt hat.
Ich kann nur sagen, würde mein Körper nicht streiken, wäre ich weiterhin in der Bürgerschaft. Und ich habe lange versucht meine körperlichen Grenzen auszureizen. Aber nun kam der Punkt, wo ich erkennen musste, dass es nicht mehr geht und ich alle Kraft für meinen Körper und Behandlungen benötige. Ein Kleben an einem Posten ist auch nicht fair gegenüber den WählerInnen, die mich gewählt haben, um aktiv zu sein. Aber im Großen und Ganzen war ich zufrieden. Ein bisschen mehr kreativer Aktivismus, statt Diskussionen wären allerdings schön gewesen.
Viele sehr warme Worte und Hilfe habe ich übrigens seit meinem Rücktritt von Seiten der Hamburger SPD und CDU erhalten, die meine sachliche Arbeit, gerade in den Ausschüssen sehr geschätzt haben. Muss ich jetzt darüber nachdenken (lacht)? Nee, ernsthaft. Und das machte durchaus die Hamburgische Bürgerschaft aus. Sind die Bürgerschaftsreden häufig geprägt vom Auftritt und der Wirkung nach außen, waren die Hintergrundgespräche auf den Gängen oder die Auseinandersetzungen in den Ausschüssen von Fairness, Sachlichkeit und hoher Kompetenz geprägt. Eine Ausnahme bildete die AfD. Aber das ist ein anderes unsägliches Thema. Und hier findet ja die eigentliche Arbeit statt.
Allerdings sollte Hamburg ernsthaft darüber nachdenken, dieses Teilzeitparlament in ein Vollzeitparlament umzuwandeln. Politik geht nicht in Teilzeit. Die Doppelbelastung von sozialversicherungspflichtiger und aus finanziellen Gründen notwendiger Tätigkeit neben der politischen Tätigkeit bringt einfach eine 60-70 Stundenwoche, kaum freie Wochenenden oder Urlaub mit sich. Selbstverständlich hätte ich meine politische Arbeit auf das Stellen von Anfragen oder eben Aktivitäten nur auf Hamburg beschränken können, aber damit wäre ich meinem Thema und bisherigen Aktivitäten nicht gerecht geworden. Mir persönlich war das auch zu wenig. Auf meine Gesundheit hätte eine Arbeitszeitreduzierung übrigens keinen Einfluss gehabt. Ich sage das deswegen, weil ich öfters damit nun konfrontiert wurde, dass eine Überlastung der Grund für meinen Rücktritt sei.
In unserem ersten Gespräch meintest Du, Dir sei noch kein_e SPD’ler_In untergekommen, die/der ebenfalls die Hartz-IV Sanktionen ablehne. Hat sich das inzwischen geändert? Immerhin schreibt sich ja Martin Schulz für seinen Bundestagswahlkampf ganz groß soziale Gerechtigkeit auf die Flügel?
Inge Hannemann: Inzwischen hat sich dieses ein ganz klein wenig geändert. Marco Bülow von der SPD im Bundestag unterstützt z. B. unseren Verein „Sanktionsfrei“. Gespräche mit weiteren SPDlern im Bundestag oder auf Landtagsebene in den unterschiedlichsten Bundesländern zeigen mir, dass zumindest stückweise ein Umdenken stattfindet. Trotzdem sind noch sehr dicke Bretter zu bohren. Ja, Martin Schulz. Oh weh. Schulz betreibt Populismus und der Schulzzug hat inzwischen ja eine Vollbremsung vollzogen. Die Medien fokussieren ihn darauf, dass er die Agenda 2010 reformieren möchte. Das stimmt einfach nicht. Bis heute hält er an den Gesetzen in den Jobcentern und Arbeitsagenturen fest. Die Verlängerung des Arbeitslosengeldes I bei Qualifizierung, also das Arbeitslosengeld Q, ist nichts Neues. Den Fokus auf Qualifizierung zu legen ist durchaus sinnvoll. Aber er hat sich bis heute nicht dazu geäußert, welche Art von Qualifizierungen. Und meine Erfahrungen als auch die Erfahrungen vieler Betroffener zeigen deutlich auf, dass kurzfristige Trainingsmaßnahmen bis heute ein Parken darstellen, aber kein Nutzen für den weiteren Berufsweg. Um das zu erreichen, muss der Topf für Qualifizierungen zumindest auf den Stand von 2010. Bis heute hat er sich um rund 40 Prozent reduziert. Gewachsen sind Parkmaßnahmen, wie ständiges Bewerbungstrainings oder sog. Orientierungsmaßnahmen, wo die Menschen acht Stunden auf Jobsuche gehen müssen. Arbeitgeber lächeln über solche Zertifikate. Sinnvoll und dringend notwendig ist der Ausbau von Maßnahmen, die auf den bisherigen Beruf aufbauen und individuell auf den Bedarf der Regionen zugeschnitten sind. Und wenn der bisherige Beruf aus unterschiedlichsten Gründen nicht mehr ausgeübt werden kann, muss tatsächlich viel mehr an Umschulungen gedacht werden. Diese Vorgehensweise gab es vor der Einführung der Agenda 2010.
Ich warte, bezogen auf Schulz, auf das Wahlprogramm der SPD und bin gespannt, ob sich die SPD hier mit klaren Fakten und Zahlen äußern wird. Aber grundlegend muss ich feststellen, dass weder Schulz noch die SPD an einer grundlegenden arbeitsmarktpolitischen Veränderung interessiert sind und sie auch nicht wirklich wollen. Eine Ausnahme bildet nach Schulz Worten die „hart Arbeitenden“, mit einem kleinen oder mittleren Einkommen entlasten möchte. Sinnvoll wäre es doch, die kleinen Einkommen erst gar nicht zuzulassen. Aber daran rüttelt er nicht. Somit betreibt die SPD nur Kosmetik, ohne an die eigentlichen Ursachen heranzugehen.
Mit den Piraten hat sich letzten Sonntag die einzige Partei, die das Bedingungslose Grundeinkommen (BGE) im Programm stehen hat, von der parlamentarischen Bühne verabschiedet. Du giltst mit Katja Kipping in der LINKEN als eine der Vorkämpfer_Innen für das BGE. Als wie weit würdest Du den Diskussionsprozess in der LINKEN diesbezüglich beschreiben?
Inge Hannemann: Dass die Piraten raus sind, finde ich sehr schade und auch für die politische Landschaft eine Tragödie. Zu den Linken: Es ist gut und notwendig, dass DIE LINKE weiter darüber diskutiert. Gewünscht hätte ich mir, dass die Forderung eines BGE in das Wahlprogramm kommt und nicht nur die Diskussionsbereitschaft. Aber dafür hat DIE LINKE einfach zu viele Strömungen. Katja ist für mich hier ein Vorbild, insbesondere weil sie das Thema hochhält. Auf Kreisverbandsebene habe ich viele unterschiedliche Meinungen und Aktivitäten kennengelernt. Es liegt an den Kreisverbänden selbst. In Hamburg ist es zum Beispiel nicht wirklich Thema.
In Finnland wird seit Anfang des Jahres das BGE getestet. Damals gab es viel Berichterstattung darüber wie fortschrittlich die Finnen doch seien. Viele Befürworter_Innen sahen das als Etappensieg oder Türöffner, um die Idee mehrheitsfähiger zu machen. Allerdings hat man seit der Einführung wenig gehört. Hat man es in Deutschland verpasst, die Berichterstattung nachhaltig zu nutzen?
Inge Hannemann: Oh nein, die Berichterstattung hat in meinen Augen zugenommen. Sei es in den Mainstreams, so auch in kleineren Zeitschriften oder Zeitungen sowie im öffentlich-rechtlichen Fernsehen. Es gab noch nie so viele Dokus, wie in den letzten Monaten. Hier sehe ich den Auslöser nicht unbedingt in Finnland, sondern das Ergebnis der Volksabstimmung in der Schweiz sowie dem Verein „Mein BGE“, der in regelmäßigen Abständen ein monatliches Grundeinkommen in Höhe von 1.000 Euro über zwölf Monate verlost. Gerade die Schweizer Initiative „Grundeinkommen“ macht eine sehr gute Öffentlichkeitsarbeit. Ich gehe fest davon aus, dass sich die Berichterstattung noch steigert. Das zeigen auch die vielen Anfragen von Medien an meine Person.
Wie uns zu Ohren gekommen ist, wirst Du nun nach Niedersachsen „auswandern“? Was verschlägt eine gebürtige Hamburgerin denn in die niedersächsische „Provinz“?
Inge Hannemann: Es ist ganz simpel: Die Hamburger Wohnungspreise und das viel zu geringe Angebot an bezahlbaren barrierefreien Wohnungen. Wir haben nun über drei Jahre eine Wohnung gesucht, die zum einen barrierefrei ist und zum anderen nicht drei Viertel eines Durchschnittsgehaltes auffrisst. Gefunden haben wir durchaus schöne Wohnungen, die in unserem finanziellen Rahmen lagen, die jedoch nicht barrierefrei waren. Das fängt schon am fehlenden Aufzug an, den ich nun mal zwingend benötige. Barrierefreies Wohnen liegt in Hamburg zwischen 14 Euro und 20 Euro pro Quadratmeter. Das ist für uns auf Dauer nicht bezahlbar oder wir fragten uns weiterhin: Wohnst du, oder lebst du? Die Suche nach günstigerem Wohnraum hat uns dann schlussendlich nach Niedersachsen gebracht. Selbst mit den Kosten des Pendelns nach Hamburg sparen wir mehrere hundert Euro im Monat. Und das bei größerer Wohnfläche und Barrierefreiheit. Das heißt aber nicht, dass der Wohnungsmarkt in Niedersachsen nicht auch angezogen hat. Aber die Auswahl ist größer.
Traditionell fragen wir zum Abschluss: Bitte vervollständige folgenden Satz: „Wenn ich Bundeskanzlerin wäre, würde ich […].“
Inge Hannamann: Bei meiner Aussage, wie im letzten Interview mit dir bleiben. Die Arbeitsmarktpolitik ist ja kein regionales Thema, sondern immer bundesweit zu sehen. Und hier hat sich bis heute nichts geändert. Im Gegenteil: Die Hartz-IV-Gesetze sind restriktiver geworden, die neue Leitung der Bundesagentur für Arbeit zielt auf „Verfolgung“ der gesamten Familie bzw. Bedarfsgemeinschaft und die Gesellschaft sind die Leidtragenden – ob beschäftigt oder nicht. Gerade der aufkommende Rechtsruck, wie die letzten Landtagswahlen aufzeigen, macht doch deutlich, dass es brodelt.
Danke: Liebe Inge, wir danken Dir vielmals, dass Du dir nochmals die Zeit genommen hast, uns ein paar Fragen zu beantworten. Wie schon beim letzten mal warst Du der/die Interviewpartner_In, der/die uns am schnellsten antwortete. Damit verleihen wir Dir hier den inoffiziellen Titel der schnellsten und zuverlässigsten Interviewpartnerin!
Wir wünschen Dir für die Zukunft, besonders gesundheitlich, alles erdenklich Gute!
Bild: Inge Hannemann und Tim Zborschil (Link-s.Gelenkt.). Aufgenommen vor zwei Jahren bei unserem ersten Interview in Kassel.