S. Leidig, DIE LINKE: "Es ist ein gewisser Ausdruck der Verlogenheit des ganzen parlamentarischen Systems."

Tim Zborschil, Ali Al-Dailami (Bundesvorstand DIE LINKE) & MdB Sabine Leidig
Tim Zborschil, Ali Al-Dailami (Bundesvorstand DIE LINKE) & MdB Sabine Leidig

 

Sabine Leidig, seit 2009 im Bundestag, ist verkehrspolitische Sprecherin der Linksfraktion im Bundestag.

 

Im Rahmen der Eröffnung Ihres Kreisbüros und der Ehrung von Link-s.Gelenkt. Gründer Tim, stand sie uns für ein Interview Rede und Antwort: 

 

 

 

Aktuell während der Fußball-Weltmeisterschaft sind Deutschlandflaggen, sei es an Balkonen, Autos oder Masten allgegenwärtig. Die Linksjugend Solid z.B. warnte diesbezüglich vor aufkeimendem Nationalismus/Patriotismus, Zitat: „Eine Nation ist für uns kein Grund zum Feiern.“. Wie stehst Du persönlich zum zweijahres zyklischen Flaggenwahn bzw. WM-Patriotismus?

 

Sabine Leidig: „Ich habe da ganz schlechte Gefühle, wenn ich überall plötzlich schwarz-rot-gold an Autos, an Fenstern, auf Wangen und Oberarmen sehe, weil ich überhaupt keinen Grund sehe, sich mit etwas zu identifizieren womit man gar nichts zu tun hat. Die Leute, die da irgendwelche Fahnen aus dem Fenster hängen, spielen ja gar kein Fußball und ich finde es erschreckend auch wie unreflektiert quasi so eine Welle von Nationalstolz durch das Land geht und auch selbst Leute, die ich für klug halte – es sind ja nicht nur „dumme Leute“ - das irritiert mich sehr. Aber ich möchte den Leuten auch nicht den Spaß verderben. Ich finde es jetzt nicht gerade gefährlich, aber befremdlich.“

 

 

Social Media boomt, auch in der Politik. Nahezu jeder Abgeordnete twittert und postet tagein tagaus – oft sogar direkt aus dem Plenarsaal. Wie wichtig ist deiner Meinung nach das Internet für Parteien und Abgeordnete und wie aktiv bist Du selbst?

 

Sabine Leidig: „Also es ist echt so, dass man sich dem gar nicht entziehen kann, also man muss da irgendwie präsent sein, um in bestimmten Szenen überhaupt wahrgenommen zu werden. Ich habe selbst eine Fan-Page und eine lokale Facebook-Seite und einen Twitter-Account, der inzwischen ganz schön groß ist und natürlich eine Homepage.

Trotzdem bin ich der Meinung, dass da auch ein bisschen eine Scheinwelt entsteht und der direkte Kontakt zu Leuten, das Gespräch und die Diskussion überhaupt nicht zu ersetzen ist mit irgendwelchen Tweets oder Facebook-Einträgen, zumal man bei Bundestagsabgeordneten nie weiß, ob sie es selbst geschrieben haben. Ich schreibe auch nicht alles selbst und ich kann auch gar nicht alles lesen.“

 

 

Ich habe eben schon den Plenarsaal angesprochen. Kannst Du dich noch an deine erste Rede im Bundestag erinnern? Was ist es für ein Gefühl vor bestenfalls rund 630 Abgeordneten zu sprechen, die zu 85% nicht Deine Meinung teilen? Und generell, wie lange dauert die Ausarbeitung und Vorbereitung einer Rede?

 

Sabine Leidig: „An die allererste Rede kann ich mich ehrlich gesagt gar nicht mehr so genau erinnern, aber es ist schon so, dass ich mir dieses Gefühl vergegenwärtigen kann, zu Leuten zu reden, die sich eigentlich überhaupt nicht dafür interessieren, was Du zu sagen hast.

Das finde ich total schwierig und es ist ein Ausdruck von einer gewissen Verlogenheit dieses ganzen parlamentarischen Systems, weil man denkt ja normalerweise, dass im Parlament Argumente ausgetauscht werden, man um die beste Lösung ringt – so ist es aber überhaupt nicht, denn wir haben Fraktionspositionen, deshalb interessiert es eigentlich überhaupt nicht, was jemand zu sagen hat.

 

Ich habe mir angewöhnt meine Rede so auszuarbeiten, dass ich zu den Menschen spreche, die hoffentlich irgendwo am Fernseher sitzen oder zu denen, die es sich hinterher auf Youtube anschauen – also zu denen, die ich ansprechen möchte, also denen ich was zu sagen habe. Und diesen Spagat hinzubekommen, das ist nicht einfach – einerseits nicht zu fachlich, also nicht zu den Fachkollegen im Verkehrsbereich zu sprechen, sodass auch die Leute, die nicht Verkehrspolitiker sind auch verstehen, was ich sage. Und andererseits trotzdem nicht so „einfach“, dass man sich im Hohen Haus blamiert. Also das ist echt ein Spagat.

 

Und ich arbeite tatsächlich die meisten Reden wortwörtlich aus, weil ich oft nur ganz kurze Redezeiten von drei oder vier Minuten habe. Und da muss ich mir das aufschreiben, damit ich nicht anfange zu erzählen und dann ist die Zeit vorbei, bevor ich beim eigentlichen Thema war.

 

Und für vier Minuten Rede brauche ich mindestens vier Stunden für die Ausarbeitung.“

 

 

Zu einer ganz anderen Frage: Politik wirkt häufig sowohl innerparteilich als auch interfraktionell wie ein gnadenloser Wettstreit um Posten, Stimmen und Mehrheiten. Gibt es Kollegen, vielleicht sogar aus anderen Parteien/Fraktionen, von denen Du behaupten würdest, dass Ihr befreundet seid oder ist letztendlich nicht jeder Politiker auch aufgrund des Berufspolitikertums ein Egoist?

 

Sabine Leidig: „Das ist ehrlich eine kluge Frage. Also Freundschaft, das ist schon mal ein dehnbarer Begriff. Im Grunde teile ich diese Einschätzung sehr, dass der Apparat in den man sich da hineinbegibt im Grunde darauf angelegt ist genau diese egoitischen Individuen zu produzieren und diese auch anzieht.

 

Es gibt aber durchaus in den anderen Fraktionen Kolleginnen und Kollegen mit denen ich sehr gut zurecht komme, wo man sich auch zwischendurch austauscht und auch inhaltliche Gemeinsamkeiten hat. Und das gilt besonders für einige, die im Institut der Solidarischen Moderne sind, mit dem wir ja versuchen solch einen Cross-Over-Prozess zu organisieren, wo Leute aus verschiedenen Parteien, aus Gewerkschaften und Verbänden zusammenkommen.

Es gibt auch einen aus der CDU-Fraktion, den ich sehr schätze und in der Enquete-Kommission zusammengearbeitet habe, das ist der Matthias Zimmer aus Frankfurt, der auch sozusagen vor seinen CDU-Kollegen mich freundlich anspricht und redet – die sind dann immer alle recht pikiert.


Aber so richtige Freundschaften, wo man sagt wir fahren zusammen in den Urlaub oder wir treffen uns auch privat, sowas habe ich da nicht gefunden und das gibt es, glaube ich, auch sehr selten – ebenfalls allerdings in der eigenen Fraktion, da gibt es auch ganz wenige.

Und ich glaube, das liegt einfach daran, dass man Schwierigkeiten hat, seine eigenen sozialen Kontakte zu pflegen, die man sowieso hat – also Familie, Sohn, zwei Enkelkinder, ich habe einen Lebensgefährten. Ich habe eine Mutter und eine Schwester, die alle gerne etwas mit mir machen wollen, deshalb bin ich sehr geizig mit meiner Freizeit. Und Freundinnen habe ich noch zwei, drei, die mir am Herzen liegen und dann noch neue Freundschaften bei solch einem kleinen Zeitbudget zu schließen, ist sehr schwer.“

 

 

Bei unseren Recherchen zu Deiner Person, sind wir darauf gestoßen, dass Du zeitweise Verantwortliche für die „Marxistische ArbeiterInnen Bildung“ (MAB) warst. Seit letztem Jahr gehören Karl Marx Schriften zum Weltkulturerbe. Fühlst Du dich dadurch in deinen Überzeugungen und Ansichten bestärkt?

 

Sabine Leidig: „Sagen wir es mal so, ich hätte dieses Weltkulturerbe nicht gebraucht, um überzeugt zu sein davon, dass die marxistische Theorie ein sehr wichtiges Instrument ist, um die Welt zu analysieren, zu erkennen und auch eine Orientierung daraus zu entwickeln.

Also ich finde den Marxismus als wissenschaftliche Methode, als Weltanschauung, als Art, sich die Welt zu erklären, unglaublich wichtig.

Ich finde man muss Marx zumindest in Grundzügen kennen, um die Welt gut zu verstehen, auch die ökonomischen Verhältnisse und die Philosophie. Aber dazu braucht es kein Weltkulturerbe.“

 

 

 

 Von 1982-1991 warst Du Mitglied der DKP. Wolfgang Gehrcke, Mitgründer der DKP und heutiger Bundestagskollege von Dir, meinte zu uns, die DKP sei heute nicht mehr zeitgemäß. Würdest Du dem zustimmen? Und bestehen heute noch Kontakte oder eine Zusammenarbeit deinerseits mit der DKP?

 

Sabine Leidig: „Also für mich war immer selbstverständlich, wenn sich das ergeben hat und DKP-Genossinnen und Genossen irgendwo aufgetaucht sind, dass man miteinander arbeitet. Es gibt auch eine innere Verbundenheit, weil man sich in der Art und Weise wie man die Welt betrachtet relativ einig ist. Allerdings schätze ich das genauso ein wie Wolfgang, die DKP wie sie heute ist, ist völlig versteinert und betoniert.

Ich habe jetzt erst vor einem knappen Jahr mit einigen DKP-Genossinnen und Genossen und früheren DKP-Mitgliedern einen Verein „Marxistische Linke - emanzipatorisch, feministisch, ökologisch, integrativ“ gegründet, mit dem Ansinnen, dass wir einen Ort schaffen wo sich auch Leute, die aus der DKP ausgetreten sind oder ausgeschlossen werden, wieder finden können. Es gab zwei große Austrittswellen aus der DKP und viele gute Leute sind in alle Winde zerstreut, was ich schade finde. Und da ist jetzt nochmal so ein Ort, wo wir – natürlich nicht nur Leute aus der DKP, es sind auch welche Linken, auch aus der SPD dabei, wo wir versuchen den Schatz der marxistischen Herangehensweise zu bewahren und zeitgemäß anzuwenden.“

 

Zur Abwechslung etwas lockeres, stell Dir vor: Der Bundestag geht auf Klassenfahrt, Du bist zu spät dran. Im Bus stellst Du fest, dass nur noch neben Erika Steinbach und Martin Lindner, der weshalb auch immer mitfährt, Plätze frei sind. Zu wem setzt Du dich?

 

Sabine Leidig: „Erika Steinbach.“

 

 

Und zum Schluss – gängige Tradition bei uns – vervollständige bitte den Satz: „Wenn ich Bundeskanzlerin wäre, würde ich […].“

 

Sabine Leidig: „Puh, dann hätte ich echt viel zu tun. Also ich glaube, das Wichtigste wäre, dass ich mir erstmal überlegen würde, welche Initiativen und Verbände und Organisationen muss ich besuchen, um mitzubekommen, was die wichtigsten Fragen der Leute sind, auf die man antworten muss.

 

Vielleicht würde ich einen „strategischen Ratschlag“ einberufen und dazu Leute einladen, die mir klug und zukunfsgerichtet vorkommen aus Gewerkschaften, den Umweltinitiativen, aus Jugendorganisationen usw., um zu sehen, womit wir beginnen können und wie kriegt man auch für gesellschaftliche Umwelzungen, die ja ziemlich tiefgehend sein müssen, Unterstützung, um nicht quasi von den Großkonzernen und Bankenlobbies gleich an die Wand gedrückt zu werden.“ 

 

 

_________
Die Fragen stellte: Tim Zborschil

 

Aufgenommen: am 06.07.2014 im Wahlkreisbüro Gießen

Veröffentlicht: 08.07.2014

 

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